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Samstag, 14. August 2010

11 Tage, Kurschatten und Pieke

Liebes Blogbuch,

nun ist es schon unverschämte 11 Tage her, dass ich Dir was erzählte. Nun, dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen hat das zuständige Schleppi-Netzteil die Löffel abgegeben und zum anderen hat sich hier ein gewisser Trott ohne nennenswerte Höhepunkte eingeschlichen. Jetzt kann ich wieder weil a) Patrick oder/und Martin mir freundlicherweise ein intaktes Netzteil zugeschustert haben (meine stille Hoffnung die sich beim blossen Anblick der grossen Verpackung nach einem süssen Carepaket streckten und für mindestens 6 Verweise gereicht hätten wurden indes nicht erfüllt; Drill Instructor Weber hätte es eh‘ bemerkt) und weil b) sich einige Winzigkeiten niederzuschreiben doch lohnt. Da heute Freitag der 13. Ist, beschliesse ich mich erst am 14. an die Tasten zu setzen. soll kein Unglück über dich, liebes Blogbuch bringen.

So hat es sich tatsächlich ergeben, dass ich mich in den vergangenen Tagen öfter auf verlorenem Posten wiederfand wie erhofft. Aber meine lange Grübeligkeit hat mich schlussendlich in den vergangenen Tagen zur Erkenntnis gebracht, dass hier so mancher unter dem Druck steht, sich einen Kurschatten (für die Emma Leser: eine Kurschättin) anzulachen. Marius nimmt jedes noch so oberflächliche Grinsen einer Dämlichkeit zum Anlass mal nachzufragen, was sie denn so macht und wo sie herkommt und wie lange sie noch hier ist und wer ihr Therapeuth ist und zu welchem Team sie gehört und, und, und…! Sackgesicht, der witzigerweise einer meiner 3 ständigsten Begleiter geworden ist, höre ich gerade am Nebentisch zum 108. mal seine Stories aus dem ehemaligen Zaire erzählen. Mit am Tisch: richtiiiiich, 3 Damen. Abgeschlossen werden seine afrikanischen Kriegserzählungen jedesmal mit dem Satz „und jetz‘ bin ich scho‘ seit 10 Jahr‘ allein‘ und desch fällt ma‘ net eifach. Isch wär au‘ gän in eina Pattnerschaft“.

Der Speisesaal ist rappelvoll was uns, Marius, Wolfgang (ein 58-jähriger Lehrer) und mich an den Tisch vom Wünschelkännchenmann spült. Dieser sortiert soeben die Tischdeko und ich erlaube mir wenig später den Spass, dem Milchkännchen mit dem Messer einem kurzen Ruck zu geben und es ein Stück weit nach rechts zu befördern. Es dauert etwa 1 Minute bevor der fernglasbebrillte, hagere, Endvierziger und mit hoher Denkerstirn, Wünschelkännchemann wie ein Strauss über den Tisch spähend diese Unordnung entdeckt. Ich pfeif ein bisschen im Walde. Es hilft. Mit dunklem Blick schaut er seinen Gegenüber Marius an. Dieser flüstert mir irgendwann zu, ob ich wüsste warum ihn der Mann die ganze Zeit so anstarrt. Ihm wäre das komisch. Auuuuuu weia. Was hab ich denn da angerichtet. Während der eine die Kanne mal hier und mal dorthin hebt fühlt sich der andere beobachtet. Wolfgang , der 58-jährige Pädagoge, erzählt indes, dass er das mit den Kurschatten ganz OK findet. Kommt für ihn aber nicht in Frage. Er erzählt, dass er seit fast 25 Jahren sein Herz an eine etwa gleichaltrige Dame verloren hat, die Angelegenheit aber irgendwie nicht eingetütet bekommt. Er erzählt freudig und wild gestikulierend wie er sie in einem Urlaub kennengelernt hat. Schliesslich haut er mit einem unbedachten Ruck die Milchkanne um. Unter lautem „Aaaach!“ verzweifelt der Wünschelkännchenmann. Wolfgang auch.

Vergangenen Mittwoch gab’s die erste Einheit Nordic-Walking-für-Übergewichtige. „Wenn Sie das lächerlich finden“, meint unser Übungsleiter, „hätten wir vollkommen recht.“ Er absolviere diesen Sport auch am Liebsten bei Nacht. OK. Einer wie ich. So circa. Das Eis meiner Skepsis ist erstmal gebrochen. „Frösche stechen“ taufe ich diesen Sport Marius gegenüber, der es witzig findet. Nun ja. Es lief sich besser mit den Knüppeln als befürchtet. Entsetzt stelle ich eine gewisse Sympathie fürs Frösche-stechen fest. Kommenden Mittwoch geht’s weiter.

Marius‘ Beobachtungsphobie hat mich inzwischen auch ergriffen. Montag ereilte mich ein erbärmlicher Schokoladen-Schrei. Am Hauseigenen Kiosk versuche ich mein Glück und schleiche um die Zeitschriftenauslage umher. Doch mein Blick gilt nur ihr: einer in erfrischendes hellblau gekleideten, zuckersüssen beinah unwiderstehlichen 100 Gramm Ritter-Sport Vollmilch. Meine Zunge walzt über meine trockene Unterlippe – zum Küssen bereit stosse ich einen leisen Gluckslaut aus. FFFUMM! Wie aus dem Nichts taucht Drill Instructor Weber neben mir auf und ordert „ne Flasche Wasser und 2 Bananen.“ Bah. Widerlich. „Was wollten Sie denn Herr Benninghaus?“ „Flasche Volvic und die pm Special.“ Zufrieden zieht der Drill Instructor seines Weges. Ich denke nochmal über Marius‘ Paranoia nach und was an der totalen Beobachtung dran sein könnte. Am Fahrstuhl wartet Marius. „Na. Was hast Du dir denn gekauft?“ „Pssst. Später.“ sag ich. „Nicht im Fahrstuhl!“

Offensichtlich sucht auch Arzthelferin Julia einen Kurschatten. Findet ihn aber nicht. Sie wirft gleich mehrere Netze aus. „Die ist wild auf Männer“ sagt Manfred, der 58-jährige Lehrer aus Offenbach. „Aber sie interessiert mich nicht. Ich bin ja quasi vergeben.“ trauert er in seiner verzwickten seit einem viertel Jahrhundert andauernden Lage. „Vor der musste dich in Acht nehmen“ raunzt er Marius und mir zu. Für Marius der Auftakt in ein neues Gespräch: „Du heisst Julia? Arbeitest Du hier? Du siehst gar nicht aus wie eine von den Kranken.“ „ …“ „Du ja auch nicht“ werfe ich ein. Patsch. Schon hab‘ ich Julia an der Backe. Sie kommt aus Nürnberg. Ich reagier gelassen. „Aus Nürnberg. So so.“ entgegene ich. „DATEV, Club, Versicherung, Christkindelsmarkt, Dürer, Reichsparteitage, Erlass der Rassengesetzte. Auch einige Rückschläge dabei.“ fahre ich fort. „Ja.“ quakt Julia. Vorrr allem derrr KKlup. Wirrr sintt alle totaleKKlupparra. Und die letzten Jahre sind schon arg daneben gegangen, Aber die rappeln sich immerrr uff.“ Uuuuiiiii. Club Fans. Nur kein Interesse zeigen. Tatsächlich. Ich mache den Petrus und verleugne meinen Verein. Wie tief hat mich diese Reha gebracht. Bevor der Hahn dreimal… oder war es Marius? Genauuu. Gerade rechtzeitig findet er ins Gespräch zurück und frohlockt, dass „der Stefan auch FC Nürnberg Fan ist!“ Julia ist begeistert und wir werden Sie zu meinem Bedauern nicht mehr recht los. Ich erzähle zum x-ten male die Geschichte wie ich Nürnberg Fan wurde (10 Jahre jung, habe ich den FCN dem Nürburgring zugeordnet und beides als Einheit angenommen). Alle finden’s witzig. Ausser Wolfgang. „Dabei liegt Nürnberg ja ganz woanders“. Danke. Wir hattens vergessen, Wolfgang.

Zum Behind-, ääh Dickensport. Wir hatten die Aufgabe uns zu 7. im Kreis zu positionieren und den Ball in Volleyballmanier zuzupritschen, zu baggern oder auch zu fangen und dann zuzuwerfen. Ringelpiez mit Anfassen. Holger erwischt den Ball nicht. Statt es dabei zu belassen versucht er die Pille pieke zu nehmen. Der Ball geht ab wie Feuerwehr und trifft mich mitten im Gesicht. Danach verschwimmt so einiges. Der Vorturner kommt angerannt. Ich frage nach dem Bus und bestelle 2 Meter Schlauch. Danach machen wir eine Tennisballmeditation.

Und sonst? Die Gewichtskurve zeigt langsam nach unten, (9 Kilo seit meiner Abfahrt); ich sehne mich nach Döner (am Wochenende aber…), abnehmen macht blöd (habe mir eine Literaturverfilmung im Konferenzraum der Klinik angesehen statt des Länderspiels gegen Dänemark; Mist), Patrick schickt mir ein Buch mit dem sonderbaren Titel ‚Wie dick muss ich werden, um kugelsicher zu sein?‘ (Antwort auf Seite 30: ca. 650 kg; dann mal los); Müsli mit Yoghurt statt Brötchen ist ne echte Alternative (treibt aber auch etwas mehr); Sackgesicht benutzt etwa 50 mal am Tag das Wort „Zausel“; in der Entspannungsgruppe regt sich eine Dame darüber auf, dass einige ihre Schuhe ausziehen („ich rieche überall Käsefüsse. Da kann ich mich nicht konzentrieren“); die Familie fehlt mir und Bob Geldofs Album „Vegetarians of Love“ ist in seinem verzückenden Irish folkigen Gewand ein Seelentröster der besten Sorte. Ein Album zwischen Traum und Tanz, zwischen Melancholie, Märchen und Frohsinn und meine Gedanken kreisen immer noch um den Döner den ich mir nicht gönnen möchte. Das fällt mir auf, als ich im Supermarkt das neue Reinhard Mey Album unter „Metall“ suche. Bravo. Und Marius‘ fährt übers Wochenende (unerlaubterweise) mal einfach nach Hause weil er dort was zu regeln hat. Nich‘ schlimm.

GOTT ist gross.

1 Kommentar:

  1. Lieber Stefan,
    am Samstag abend sind wir aus Korsika zurückgekommen, und wir haben immer wieder an dich gedacht, alle vier (D.h.zwei Erwachsene v.Woyskis und zwei Erwachsene Müllers)! Als ich Sonntag den Blog gelesen habe, musste ich manchmal laut lachen (die Kinder haben sich gewundert und immer wieder gefragt "Was liest Du eigentlich da?") - man merkt wie Du kämpfst, und dass alles nicht leicht ist, aber Du hast Deinen Humor nicht verloren, und das freut uns riesig! Wir denken ganz fest an Dich und Petra und Stella und wünschen Dir alles alles Gute - dass Du Deine Kraft nicht verlierst! Alles Liebe von Leslie, Bodo, Merle und Luca
    P.S. Warten schon gespannt auf die Fortsetzung!

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